Das zweite Buch der Schöpfung

1. Odrörir - Der Skaldenmet

Als die Götterfamilien der Aarngaar und Irminsan nach langem Kampf Frieden schlossen, ließen sie eine Schale durch die Runde gehen, in der sie ihren Speichel sammelten, der die ganze Kraft ihrer Reden und ihre gesamte Weisheit enthielt. Daraus schufen sie ein Wesen, das Kvasir hieß und der weiseste aller Männer war. Kvasir war der erste, der die Menschen Wissen und Weisheit lehrte, und viele Jahre zog er durch alle Länder und gab Rat in allen Dingen. Damit aber erregte er den Neid zweier Schwarzalben, Fjalar und Galar, die ihn heimtückisch zu Gast luden und hinterrücks ermordeten. Sein Blut fingen sie in drei Kesseln auf, die sie Odrörir, Son und Bodn nannten, und brauten daraus einen Met, der ebenfalls Odrörir hieß. Das bedeutet "Der zur Geisteskraft Anregende", denn dieser Met machte jeden, der davon trank, zum Dichter.
Die Schwarzalben besaßen Odrörir aber nicht lange, denn in ihrer Mordlust töteten sie auch zwei Riesen, Gillingar und seine Frau, und mußten Suttungar, dem Sohn der beiden, den Met als Blutgeld geben. Suttungar übergab die drei Gefäße seiner Tochter Gunnlöd, die schön und weise war, und sie zog sich damit in eine verschlossene Höhle in einem Berg zurück, wo niemand den kostbaren Trunk der Weisheit und Inspiration rauben konnte. Die Aarngaar und Irminsan, die Kvasir geschaffen hatten, meinten aber, daß der Met aus seinem Blut ihnen gehörte, und sein Besitz war ihnen so wichtig, daß sich der Gott des Mets, Yark, auf den Weg machte, um ihn zu gewinnen. Da ihn Suttungar nicht freiwillig hergeben würde, entschloß sich Yark zu einer List.
Unter dem Namen Bölverk ging er auf die Felder von Suttungars Bruder Baugi, wo gerade neun Knechte bei der Ernte waren und sich elendig mühten, denn sie wußten nicht, was ein Schleifstein ist, und hatten stumpfe Sensen. Bölverk schliff ihre Sensen, und als sie danach den Schleifstein von ihm haben wollten, warf er ihn in die Luft, sodaß alle danach zu greifen versuchten und sich mit den Sensen, die sie geschultert hatten, gegenseitig die Köpfe abschnitten. Deshalb läßt man bei der Kornernte neun Ähren auf dem Feld stehen, denn die Knechte Baugis sind die Geister des Korns, die man bei der Ernte tötet, wie es Yark als Bölverk getan hat, aber in den stehen gelassenen Ähren können sie weiterleben und wiedergeboren werden. Baugi hatte nach dem Tod seiner Knechte nicht mehr genug Leute für die Hofarbeit, und so nahm er gerne an, als ihm Bölverk das Angebot machte, die Arbeit der neun Getöteten zu verrichten. Als Lohn versprach Baugi, ihn von dem Met trinken zu lassen, den sein Bruder Suttungar besaß.
Als die vereinbarte Dienstzeit um war, ging Baugi mit Bölverk zu dem Berg, in dem Gunnlöds Höhle lag, und bohrte ein Loch in den Fels. Bölverk verwandelte sich in eine Schlange, kroch durch dieses Loch in die Höhle und zeigte sich dort der Hüterin des Mets in seiner wahren Gestalt, als Yark. Drei Nächte lang schlief er mit ihr in der Höhle und erhielt dafür die Erlaubnis, drei Schlucke von den drei Gefäßen zu trinken. Denn in diesen drei Nächten weihte ihn Gunnlöd, die eine Göttin der ältesten Zeit war, in ihre Geheimnisse ein und machte ihn durch die heilige Hochzeit mit ihr zu einem Gott von noch größerer Kraft und Weisheit. Yark trank mit je einem Schluck alle drei Gefäße leer.
Kaum hatte er das getan, kam Gunnlöds Vater Suttungar, dem Baugi alles berichtet hatte, mit gezogenem Schwert in die Höhle. Yark, der selbst kein Krieger ist, verwandelte sich in einen Adler, um sich und den Met in Sicherheit zu bringen. Doch auch Suttungar beherrschte die Kunst der Verwandlung und flog ebenfalls in Adlergestalt hinter ihm her. Als sie Mesgahd erreichten, hatte Suttungar Yark fast eingeholt. Die Götter, die das sahen, stellten Gefäße auf, in die Yark den Met spie, und so wurde er leichter und entkam Suttungar.
Seither ist Odrörir, der Met der Weisheit und Inspiration, im Besitz der Götter, und jedem, der dessen würdig ist, schenkt Yark einen Trunk davon und läßt ihn so zum wahren Dichter werden. Es gibt aber auch ein paar Tropfen, die der Adler auf seinem Flug nach hinten fallen ließ, und das ist der Anteil der falschen Dichter, die keine wahren Worte, sondern nur gereimten Unrat von sich geben.


2. Die Geschichte vom Riesenbaumeister

Als die Götter Mesgahd eingerichtet hatten, aber noch keine Wälle zu ihrem Schutz besaßen, kam ein Riese vom Stamm der Trolle und bot ihnen an, in einem einzigen Winter eine Schutzmauer zu bauen, wenn er dafür Delanee zur Frau bekäme. Portaron war zu dieser Zeit gerade auf einer seiner Fahrten. Die Götter glaubten, der Riese könne die gewaltige Arbeit nicht so schnell vollenden, und gingen auf seine Bedingung ein.
Der Riese aber hatte einen Hengst mit Namen Svadilfari, der so gewaltige Steinblöcke anschleppen konnte, daß die Mauer schnell wuchs und es bald so aussah, als würde sie rechtzeitig fertig. Nun hatte Delanee dem Handel nur zugestimmt, weil sie nicht geglaubt hatte, den Riesenbaumeister wirklich heiraten zu müssen, und Sonne und Mond, die er als Mitgift wollte, konnten die Götter einem Mann vom Volk der Trolle nicht überlassen, ohne die Ordnung der Welt zu gefährden.
In dieser Notlage fand Kamehra eine List. Sie verwandelte sich in eine Stute und lockte den Hengst von der Baustelle weg. Der Riese, auf sich allein gestellt, schaffte den Bau nicht mehr, und als er am ersten Frühlingsmorgen sah, daß er getäuscht worden war, begann er zu wüten und drohte, sich seinen Lohn mit Gewalt zu holen. Da riefen die Götter Portaron von der Reise zurück, obwohl sie dem Riesen geschworen hatten, daß er sicher sein würde. Portaron kam und erschlug den Riesen mit der Endgültigkeit, die seinem Wesen entspricht. Die Stute, die Kamehra war, gebar wenig später ein Fohlen: Slehnir, das größte und schönste Pferd, daß man je gesehen hat. Thalos war von ihm so beeindruckt, daß er das Pferd behielt.


3. Grimner bei Geirröd

Thalos und Dihla waren im Streit um König Raudungs Söhne. Thalos schenkte seine Gunst dem Älteren, Geirröd; der Jüngere, Ansgar, war der Liebling der Dihla. Eines Tages fuhren die Königssöhne in die See hinaus; da erregte Thalos einen starken Sturm, woraus Geirröd allein lebendig wiederkam. Ansgar, sagte er, sei ertrunken - und da war seine Hand im Spiele. Nun höhnte Thalos und sprach zu Dihla: "Dein Liebling Ansgar schwamm nach Riesenheim und läßt sich's wohl sein mit den Riesenweibern." Dihla sann auf Rache, und als König Raudung vor Kummer gestorben, sprach sie zu Thalos: "Dein Günstling Geirröd schaltet in der Rauhfürsten Reich mit eklem Geiz und grimmer Härte als ein übler Volksherr." Thalos gedachte unerkannt zu Geirröd zu fahren und zu schauen, ob Dihla die Wahrheit gesprochen; die aber sandte ihre Schmuckmagd zu Geirröd mit eiliger Warnung: "Hüte Dich, Herr, ein böser Zauberer kommt Dich besuchen, der bringt Dir Gefahr und Verderben in Land und Haus; ihn zu erkennen, beachte dies Zeichen: er trägt ein blaues Gewand und kein Hund bellt ihn an, wenn er fremd sich naht." Nicht lange, und Geirröd ward Botschaft gebracht: "Ein fremder Mann, gehüllt in blaues Gewand, ist ins Land gekommen, er nennt sich Grimner (d.h. der Verhüllte); seltsam aber ist es zu sehen: kein Hund bellt ihn an, wenn er fremd sich naht." Sogleich hieß Geirröd den Fremden fangen und fesseln; der aber schwieg auf alle Fragen. Dann ließ der König zwei Feuer schüren in zwei großen Kesseln auf feinem Hofe und setzte den Stummen mitten dazwischen. Dort saß der acht Nächte und schwieg. Einen ungen Sohn von zehn Wintern hatte der König, der hieß wie sein Bruder, Ansgar. Ihn bedauerte der fremde Mann dort zwischen den Feuern, er gab ihm ein Horn voll zu trinken und meinte, übel täte der Vater, den Alten zu quälen. Grimner trank es aus; da brannte die Glut schon bald sein blaues Gewand. Nun brach er sein Schweigen und sprach zu Agnar: "Sieh, Knabe, wie mich die Flamme brennt! Schon glüht mir das Kleid und zieh' ich es hoch, so faßt sie darüber den Mantel. Da keiner mir half, hast Du allein mit dem Trunk mich gelabt. Heil Dir, Ansgar, Dich grüßen die Götter: Geirröds Sohn wird König im Ostreich. Nun höre, was ich Dich lehren will. Nie besser ward jemals ein Trunk vergolten!" -
Und der Verhüllte enthüllte der Urzeit Geheimnis: "Aus Sordas Fleisch ist die Erde geschaffen, aus seinem Schweiß die schäumende See, aus den Gebeinen die Berge, die Bäume vom Haare, vom Hirnschädel das Himmelsgewölbe. Die Brauen pflanzten gütige Götter schützend den Menschenkindern um die Erde. Ein Schwarm von Raben führen auf wolkigen Wegen die Sonne; alle Berge würden verbrennen, alle Seen würden verfliegen, hätte nicht göttliche Sorge der glühenden Kühling den Schild vor die Stirne gestellt. Große Gefahr droht immer der Eilenden, ein Wolf verfolgt sie, Heuler genannt, den ganzen Tag, bis sie im abendlichen Hain sich birgt. - Wer rückt mir den feurigen Kessel vom Leibe? Ihm sollen es alle Götter lohnen, wenn sie auf Erden mich wiedersehen!" Das vermocht nicht Ansgar, und Geirröd verbot es. Da fuhr Grimner zu lehren fort:
"Es war vor langer Zeit, da gingen die Götter, sie heißen Yark und Delanee, über die Erde und schufen den Menschen. Sie gaben ihm Körper und gaben ihm Geist. Den Schutz der Götter erstritt der Friedliche, als sie sie wollten zu Sklaven der Großen. Den Trank brachte er ihnen, geheißen auch Met, und schenkte den Frieden, ohne wider zu verlangen von den Irdischen!" - Und wieder sprach Grimner - die Flamme leckte -: "Wer rückt mir den feurigen Kessel vom Leibe?" Das konnte nicht Ansgar, und Geirröd verbot es. Da fuhr Grimner zu lehren fort:
Ich seh' in der Höhe ein heilig Land: dort wohnt Portaron, bis die Hochburg zerkracht, fünfhundert Säle und viermal zehn, die höchsten aller, behausen den Herrn. Das goldene Aargos doch wartet der Helden, die Heervater sammelt in seinem Saal. Wer dahin kommt, erkennt ihn leicht. Die Sparren sind Speere, das Dach decken Schilde, Brünnen die Bänke, ein Wolf wacht am Westtor und über ihm breitet ein Adler den Fang. - Funfhundert Tore und viermal zehn, so viele zählt' ich in Aargos Feste, aus jedem kommen achthundert Kämpen, den Wolf zu schlagen. Wovon in den Hallen die Hehren sich nähren, frag' Geri und Freki - Gierig und Frech; der Herr gibt den Hunden vom Braten das Beste, doch lebt der Gewalt'ge vom Weine allein!" - Und zum dritten rief Grimner: "Die Kessel rückt weiter!" Nicht Ansgar vermocht' es und Geirröd verbot es. Da fuhr Grimner zu lehren fort:
"Thalos Namen wissen wenige, sind ihrer viele, Dir sag ich sie gern: Heervater kennst Du, Walvater auch wohl, Siegvater sollst Du noch kennen lernen, Wanderer und Wunsch, die mögst Du Dir merken, Füller und Hüller, Brander und Brüller, Graubart und Breithut, Glutaug und Glanzblick, Wohltäter - Meintäter, also bei den Menschen, Hoch, Ebenhoch, Erster bei den Aarngar und Irminsan, der Vielgewandt bei Hindtags Feste, Schläfrer mit dem Schlafdorn am Wandargsmal, Rangsgar bei Herlöd, und - Geirröd, wo bist Du? - Grimner bei Geirröd ist Thalos genannt!"
Auf springt Geirröd - will die Kessel fassen, beiseite ziehen - Thalos befreien -: da gleitet sein Schwert ihm vom Schoße zu Boden, den Griff nach unten, die Spitze nach oben, er stößt daran, strauchelt, stürzt vornüber, fällt in das Schwert und findet den Tod.
"Jetzt heiß' ich Dir Thalos, ich war Dir ein Schrecken; das Schwert, dem ich Gunst gab, Befleckt Den Blut. Alle Namen, die ich Euch nannte, zu Thalos dem Einen werden sie nun. Leb' wohl, Ansgar, Du hast meinen Heilgruß. Den Aarngaar zeig' ich mein Angesicht wieder, befreit von Fesseln, mit Dihla versöhnt, so lad' ich die Männer zur Feier des Friedens.
Damit schwand Thalos. Die Feuer verloschen, der Winter ward Lenz, und Ansgar war König an Geirröds Statt auf lange, glückliche Zeit.


4. Solders Tod

Weil Thalos ratlos von der Wala heimkam, nahm Dihla entschlossen das Werk in ihre Hand. Sie fuhr durch alle Räume und Heime der Welt und bat alle Wesen, Riesen und Alben, Menschen und Zwerge, Tiere und Pflanzen und Steine, um einen heiligen Eid: daß sie Solder niemals verletzen würden. - Gern gaben ihr alle diesen Eid; denn alle liebten sie den gütigen Junggott; und freudig kam Dihla nach Mesgahd zurück: "Gerettet ist Solder! Ich habe den Eid!" Da jubelten die Götter und wurden in ihrer Freude gar übermütig. Sie nahmen Solder in ihre Mitte und scherzten und lachten: "Laßt sehn," rief einer, "ob der Eid auch hält!" und ein anderer: "Zeig uns, ob Dich gar nichts verletzt!" Und sie warfen mit Speeren, schossen mit Pfeilen, ja sie schleuderten Steine auf den lachenden Gott. Speere , Pfeile, Steine, machtlos fielen sie auf den Boden zurück: unverletzt stand Solder. Nun tanzten die Götter vor lauter Freude in jauchzendem Reigen um Solder her. Das ärgerte Rowahn, den Unheilstifter; und wie er nun einmal Verwandlungen liebte, nahte er sich Dihla als ein altes Weib. Das murmelte wie ingrimmig so vor sich hin: "Maßloser Unsinn! Frevelndes Spiel!" Dihla horchte und frug: "Was murmelst Du, Alte?" Und wieder kam's leise von den welken Lippen: "Macht nur so fort! Ihr werdets erleben!" Ungeduldig rief Dihla: "Sprich deutlich, was meinst Du? Was hast Du mir zu sagen?" Und die Alte kicherte: "Unverletzlich wähnt ihr den Solder? Das gibt es gar nicht." Da eiferte zornig die Göttin: "Du Närrin! Ich habe den Eid von allen Wesen!" "Von allen? Wer's glaubt! ich weiß es besser." Lachend humpelte die Alte davon. "Bleib!" rief ihr Dihla nach: "Was weißt Du besser?" "Von allen?" klangs über die Achsel zurück: "Ich kenne doch etwas - - -" "Die Mistel meinst Du?" Das Wort fuhr der Göttin jäh heraus. "Die Mistel - gewiß! Hütet Euch! Hütet Euch!" Damit verschwand die Alte vom Hofe. Dihla aber, im Frohstolz, ruft hinterher: "Die Mistel kann keine Eide schwören; die ist kein Wesen, die hat keinen Willen, der Baum ist das Wesen, sie lebt nur von ihm!" Und zu den Göttern: "Spielt nur weiter, schießt Eure Pfeile! Solder ist sicher, Wir haben den Eid!" - Beiseite stand traurig der blinde Höder, der sich am Spiel nicht beteiligen konnte. Er hörte etwas neben sich, wie ein rauschendes Gewand, und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: "Armer Höder, Du möchtest gerne mittun?" "Wie könnt' ich, ich Blinder? Du spottest mir. Wer bist Du?" "Kein Spott! Ich bin von der Dihla Gesinde; hier schickt sie Dir einen guten Pfeil - ich soll Dir, sagt sie, den Bogen richten, das Du das Ziel nicht fehlen kannst." Den Mistelzweig hatte sich Rowahn gebrochen, und drückte ihn fest in des Blinden Hand, richtete den Bogen, lenkte ihm den Pfeil - er flogt - er traf - und drang in das Herz - und Balder sank nieder. - Erschrocken liefen die Götter hinzu - sie dachten, er strauchelte, wollten ihm helfen - und sahen mit Entsetzen: "Solder ist tot!" - Starr und stumm standen sie alle. Ein Vogel flog krächzend über sie hinweg: der lachende Rowahn! Der Laut verhallte, Todesschweigen über Aargos! - Dann raunte es allmählich hier und dort: "Was ist geschehen?", "Wie konnt' es geschehen?", "Wer hat es getan?", "Mein Pfeil war's nicht!" "Nicht meiner!" "Auch meiner nicht!" - Höder, der Blinde, wußt es nicht besser, es schossen ja alle: "Gewiß nicht meiner!" - Und wieder verstummte das dumpfe Gemurmel. In ihrer Mitte lag Solder tot.
Thalos hatte tief geschwiegen; nun winkte er Hermos, dem Götterboten: "Auf Hermod!" so sprach er leise zu ihm: "Nimm Dir mein Roß, wirf Dich auf Slehnirs Rücken und eile zum Reiche der Letho hinab! Dort findest Du Solder; fordere ihn uns wieder! Er gehört nicht der Letho. Der Gott darf nicht tot sein!" - Und Hermos nahm sich Thalos' Roß, warf sich auf Slehnirs Rücken und eilte neun Nächte hindurch auf dunklen Wegen nieder zum Reich der Toten, zur Letho.
Indessen rüsteten die trauernden Götter dem toten Solder am Seegestade die Leichenfeier. Auf des Gottes Meerschiff war reich geschmückt das letzte Lager ihm aufgeschlagen. Schon glühte der Brand, als sie die Leiche feierlich auf die Scheite legten. Das treue Roß stand auch schon bereit, dem lieben Herrn ins Feuer zu folgen. Da schwang sich ein junges, weinendes Weib auf den Bord des Schiffes: Solders Erdenlieb, die blühende Hanna, die niemals vordem den Göttern genaht war. Ihr tiefstes Leid erhob sie so, und keiner der Götter hielt sie zurück von dem göttlichen Freunde. Die Arme schlang sie um seinen Leib, küßte den Mund - und verging in dem Kusse. Thalos vermählte die beiden Toten, und das flammende Bett schwamm hinaus in das Meer. -
Im gleichen Augenblick war auch Hermos bis an die Grenze von Garnadaar gelangt. Ein Riesenweib trat ihm dort entgegen. Kudrun, die Wächterin, rief ihn an: "Wer kommt uns von droben lebend daher? Die Lethobrücke donnerte unter Deinem Rosse, wie sie nicht unter fünfhundert Männern schalt!" - Ein Aarngaar bin ich," sprach Hermos gelassen, "der Bruder des Solder; den fordere ich wieder. Er gehört nicht der Letho. Du weißt, wo er hinging. Sag mir den Weg!" Gen Norden wies Kudrun in stummem Staunen, und ungehimdert sprang Slehnir vorwärts, bis daß er dicht vor dem Lethogatter stand. Da gab Hermos dem Roß die Sporen, und mit mächtigem Satz überflog es das Gatter. Seiner Hufe keiner berührt es nur leicht. Hermos stieg ab und ging in die Halle. Dort sah er auf dem Hochsitz in Ehren des Fürsten den Bruder Solder und neben ihm Hannah. "Die Götter rufen Dich, Solder, heim. Du gehörst nicht der Letho, Du darfst nicht tot sein. Folge mir lebenden Atems nach Aargos." Solder schwieg; doch aus dunkelster Tiefe erklang, wie ein unterirdischer Donner, die Stimme der Herrin der Toten: "Der Letho gehört Solder, solange ihn nicht alle Wesen ins Leben weinen!" Und Solder winkte dem Hermos zum Abschied. -
Als Hermos zurück war, flugs ritten die Boten der hoffenden Götter durch alle Räume und Heime der Welt: "Weinet! Weinet! Weinet, ihr Wesen, weinet alle um Solders Tod, weinet, weinet für Solders Leben! Weint uns den Solder ins Leben zurück!" Es flossen die Tränen der ganzen Erde, der Höhen und Tiefen, der Riesen und Alben, der Menschen und Zwerge, und was nur lebte, in Wassern und Lüften, die Welt überströmte von Tränen um Solder, als würde der Tod aus dem Weltall geschwemmt. - Die Boten der Götter wandten sich heimwärts, froh des glücklich vollbrachten Werkes. Da kamen sie vorüber an einer Höhle, ostwärts von Riesenheim, die lag lautlos - kein Schluchzen, kein Weinen im Dunkel zu hören, und doch saß da Eine, sie sahen sie sitzen, trockenen Auges, ohne Tränen, sie, die einzige von allen Wesen, sie weinte nicht um Solders Tod, sie weinte nicht für Solders Leben. Die Boten riefen ihr, von Grausen duchbebt: "Wer bist Du, Gräßliche? Weinst Du nicht? Weine um Solder! Weine mit Allen!" - "Töck bin ich, die dunkle - was soll ich weinen? Was hat mir Solder mein Lebtag genützt? Behalte die Letho, was sie einmal hat!" - Entsetzen jagte die Boten nach Hause. Das Weib aber ward ein glänzender Fisch, der barg sich im Wasserfall. Es war Rowahn. -